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Tuesday, March 3, 2020

Verteilung von Flüchtlingen braucht nicht eine einstimmige EU-Entscheidung

Das ist schon sehr interessant.

Thomas Schmidinger schreibt (Der Weg aus der Flüchtlingskrise FALTER 04.03.2020 über ein ...
... rechtliche Instrumentarium das es bereits gibt, die Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen. Diese bislang noch nie angewandte Richtlinie bietet einen Mechanismus einer EU-weit koordinierten Aufnahme einer großen Zahl von Vertriebenen, die dann keine individuellen Asylverfahren durchlaufen und setzt das Dublin-System außer Kraft.
Dieser Mechanismus erfördert nicht die Zustimmung alle 27 EU Mitgliedsländer, um rechtskräftig zu sein. Auf Vorschlag der Europäische Kommission kann eine Mehrheit der Rat der Europäischen Union (die EU Minister) diesen Mechanismus ins Leben rufen. D.h., ein Land wie Ungarn kann das allein nicht blockieren. Alle vier Vizegrad-Staaten auch nicht. Alle vier Vizegrad-Staaten plus Österreich auch nicht. (Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20.Juli 2001)

Aber das bedeutet auch, einzige Staaten wie Österreich oder Deutschland oder Frankreich oder andere haben auch nicht das Alibi: „Na ja, wir wurden gerne eine Flüchtlings-Verteilung haben. Aber schau, der böse Viktor Orbán wird alles verhindern.“ Das geht gar nicht.

Alibis wie diese, meine ich (Constanze von Bullion, Deutschland kann mehr tun Süddeutsche Zeitung 03.03.2020):
Die Entscheidung der Kanzlerin 2015 war moralisch richtig und für Deutschland wirtschaftlich auch ohne Weiteres tragbar. Das hat sich inzwischen herausgeschält. Die Hoffnung aber, die europäischen Nachbarn würden schon irgendwie nachziehen und sich Deutschlands menschenfreundlicher Asylpolitik anschließen, war Illusion. Im postsozialistischen Osteuropa haben die meisten Staaten sich eingemauert im ängstlich-nationalistischen Nein gegen muslimische Zuwanderung. Diese Haltung gilt leider auch für erhebliche Teile der ostdeutschen Gesellschaft. Daran werden die Bilder von der griechisch-türkischen Grenze nichts ändern, im Gegenteil. Die inneren Schotten werden jetzt noch dichter gemacht. ...

Einen gesamteuropäischen Konsens in Migrationsfragen wird es absehbar nicht geben. [meine Hervorhebungen]
Schuld sind die Osteuropäer, nicht die civiliziertere Westis!

Das Dublin-System reicht offensichtlich nicht für einen Flüchtlings-Notfall wie heute. Die EU soll anders handeln als vorher.

Sunday, March 1, 2020

Die 2016 "Lösung" der damaligen EU Flüchtlings-Krise

Nach der Krise mit der Flüchtlings Welle von 2015-16, schrieb Robin Alexander:
Ein Jahr nach den Ereignissen, von denen ich in diesem Buch berichte, scheint die Flüchtlingskrise schon Geschichte. Nur noch wenige Asylbewerber kommen nach Deutschland, die Erstaufnahmeeinrichtungen und Heime leeren sich. Aber Deutschland hat das Problem nur an die Grenzen Europas ausgelagert. Zu einem hohen Preis. [meine Vorgebung] (Die Getriebenen, 2018 Ausgabe)

Wednesday, February 12, 2020

Hat Basti eine kohärente Politik gegenüber den Visegrad-Staaten?

Hier sind fünf aktuelle Geschichten aus der Oberösterreichischen Nachrichten:

Offensichtlich können die Außenbeziehungen zwischen zwei Ländern sehr kompliziert sein. Die Visegrad-Gruppe-Länder Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei versuchen, in einigen Fragen innerhalb der EU als Block zu fungieren, insbesondere bei ihrer Ablehnung der Einwanderung.

Österreichs derzeitiger Bundeskanzler Sebastian "Basti" Kurz hat in seiner aktuellen türkis-grünen Regierungskoalition und seiner früheren türkis-blauen Koalition eine deutlich einwanderungsfeindliche Position eingenommen, die der der Visegrad-Gruppe ähnelt.

Österreich ist gegen Atomkraftwerke und besorgt über die Umweltrisiken solcher Anlagen insbesondere in der Tschechischen Republik.

Aber Österreich ist auch eines der reichsten Länder der EU und ein Nettogeber für die EU. Basti hat sich nach dem Brexit gegen eine geringfügige Erhöhung der österreichischen Beiträge zum EU-Haushalt ausgesprochen, aber er hat jetzt einfach nachgegeben und zugestimmt.

Die einwanderungsfeindliche Haltung und die anti-EU-Haltung über das Budget sind Positionen, die Basti und seine ÖVP einen nationalistischen Ton anschlagen lassen, um Wähler der rechtsextremen FPÖ anzusprechen.

Aber gerade die jüngste Diplomatie mit Ungarn ist offensichtlich nicht kohärent.

In der akuten Phase der Flüchtlingskrise 2015 war es Ungarn, das absichtlich Zehntausende Flüchtlinge nach Österreich freiließ, die meisten von ihnen auf dem Weg nach Deutschland. Trotz Bastis "Grenzen-dicht"-Positionierung gegen Flüchtlinge hat er sich mit Ungarn und den übrigen Visegrad-Staaten verbündet, um jeden neuen, pragmatischen Ansatz in Bezug auf die Einwanderungssituation der EU zu blockieren und das derzeitige Dublin-System beizubehalten, das den Großteil der Verantwortung für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika auf die EU-Mitglieder Griechenland, Italien und Spanien ablagert.

Tatsache ist, dass die Türkei jederzeit eine neue Massenbewegung von Flüchtlingen in die EU auslösen könnte, nur indem sie einen Teil der vier Millionen Flüchtlinge, die sie derzeit hält, nach Norden entsendet. Das NATO-Mitglied Türkei befindet sich derzeit in einem Schießkonflikt mit Syrien und Russland und ist in eine riskante, umstrittene Intervention in Libyen verwickelt, auch auf der gegenüberliegenden Seite Russlands. (Erdogan: Turkey will hit Syrian government forces 'anywhere' Aljazeera 12.02.2020; Konflikt zwischen Russland und Türkei in Syrien spitzt sich zu Oberösterreichische Nachrichten 11.02.2020)

In diesem Zusammenhang scheint Österreichs Diplomatie gegenüber den Visegrad-Staaten verwirrt. Basti sprach sich dafür aus, möglicherweise sein Veto gegen die höheren EU-Beiträge einzulegen, was insbesondere mit der EU-feindlichen Haltung Orbáns übereinstimmt. Aber dann warf er das Handtuch.

Dabei ließ er seine EU-Ministerin Karoline Edtstadler in Budapest für Bastis Penny-Pinching werben. Aber Ungarn ist sehr abhängig von EU-Subventionen. Alle vier Visegrad-Gruppenmitglieder sind Nettoempfänger.

Bei allen Anscheinen sieht es nicht sehr kohärent aus.

Saturday, February 1, 2020

Langfristige Herausforderungen der EU bei Einwanderung und Flüchtlingen (Teil 2 von 3)

Es gibt Kriege, Kriegsgerüchte und große Instabilität im Nahen Osten. Das hat Millionen von Flüchtlingen auf den Weg nach Europa geführt.

Österreichs damaliger Außenminister und jetziger Bundeskanzler Sebastian "Basti" Kurz und andere fremdenfeindliche Politiker nutzten die akute Phase des Flüchtlingsstroms 2015/16 erfolgreich aus. Und Kurz selbst behauptete, dieses Problem durch "Schließung der Balkanroute" gelöst zu haben. Bestenfalls spielten Kurz' "Balkanroute"-Verhandlungen neben Angela Merkels Verhandlungen mit der Türkei eine kleine Zusatzrolle. (Deutsche Welle beschreibt und analysiert diesen Deal, der noch in Kraft ist: The EU-Turkey refugee agreement: A review 18.03.2018; Barbara Wesel, The EU's grubby and dangerous deal with Turkey 18.03.2016)

Wie Barbara Wesel es zu Recht beschreibt, "wird Merkels Türkei-Deal effektiv den Schutz und die Betreuung der Mehrheit der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten in die Türkei auslagert". (meine Übertragung aus dem Englischen)

Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) nimmt derzeit auf seiner Website (abgerufen am 24.01.2020) mit:
Die Türkei beherbergt nach wie vor die weltweit größte Zahl von Flüchtlingen mit fast 4,1 Millionen Flüchtlingen, darunter 3,7 Millionen Syrer und fast 400.000 Asylsuchende und Flüchtlinge anderer Nationalitäten. Die türkische Gesetzgebung bietet Menschen, die internationalen Schutz benötigen, bei der Registrierung bei den Behörden ein breites Spektrum von Rechten. Dennoch werden bei der Umsetzung des Rechtsrahmens einige Schutzlücken festgestellt, die vor allem auf das Ausmaß der Reaktion auf Flüchtlinge zurückzuführen sind.

Die größten Herausforderungen bleiben der Druck auf die nationalen Ressourcen und die Verfügbarkeit von Dienstleistungen für Flüchtlinge und Aufnahmegemeinschaften. Während sich staatliche Institutionen diesen Herausforderungen stellen, hat die langwierige Flüchtlingssituation die öffentliche Aufmerksamkeit auf die sozialen Auswirkungen der Anwesenheit der Flüchtlinge gelenkt. [meine Übertragung aus dem Englischen]
Natürlich nehmen die Länder des Nahen Ostens bereits Flüchtlinge aus Konflikten in der Region auf. Und Libyen in Nordafrika spielt eine besondere Rolle. Ebenfalls vom UNHCR (abgerufen am 24.01.2020):
In Libyen benötigen schätzungsweise 823.000 Menschen humanitäre Hilfe, wie aus der Übersicht über den humanitären Bedarf 2018 (HNO) hervorgeht. Binnenvertriebene, Flüchtlinge und Asylsuchende gehören zu den am stärksten gefährdeten Menschen, die nur begrenzten oder keinen Zugang zu Grundgütern und grundlegenden Dienstleistungen haben. Politische Instabilität und gewaltsame Zusammenstöße haben zu anhaltender Vertreibung und einem sehr herausfordernden operativen Umfeld für das UNHCR geschaffen. Es wird erwartet, dass das Schutzumfeld in Libyen eingeschränkt bleibt und sich wahrscheinlich noch weiter verschlechtern wird.

Das UNHCR schätzt, dass 4.500 Menschen in Libyen festgehalten werden, von denen 2.500 das UNHCR beunruhigen. Der Zustand der inhaftierten Flüchtlinge und Migranten ist nach wie vor äußerst besorgniserregend, und die Suche nach Lösungen für die Schwächsten ist eine der wichtigsten Prioritäten im Jahr 2020. Darüber hinaus gibt es über 300.000 Binnenvertriebene, von denen 128.000 seit dem Wiederbeginn der Zusammenstöße in Tripolis im April 2019 neu vertrieben wurden, und es gibt mehr als 447.000 IDP [Internal Displaced Persons] Rückkehrer. Während Verhandlungen auf hoher Ebene laufen, um Konflikte zu beenden und eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu fördern, ist das UNHCR bereit, im Jahr 2020 auf humanitäre Bedürfnisse zu reagieren. [meine Übertragung aus dem Englischen]
Während der Herrschaft von Muammar al-Gaddafi war Libyen sicherlich kein Modell einer aufgeklärten Regierungsführung oder ein Land, in dem die Menschenrechte gewissenhaft geschützt wurden. Aber sie hatte eine große Zahl afrikanischer Flüchtlinge aufgenommen und beschäftigt, die vor militärischen Konflikten oder katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen in ihren eigenen Ländern geflohen waren.

Doch als der Bürgerkrieg ausbrach und die USA, Großbritannien und Frankreich militärisch intervenierten, um Gaddafis Regierung zu stürzen, wurde diese Funktion radikal reduziert. Und so mehr der Flüchtlinge, die Libyen früher aufnehmen konnte, geht es nach Europa, oft in gefährlichen Seereisen in klapprigen Schiffen. Es gibt Flüchtlingslager in Libyen, die teilweise in Zusammenarbeit mit EU-Ländern eingerichtet wurden, und sie wurden schlecht verwaltet, d. h. schwere Vernachlässigung und Verbrechen, einschließlich Vergewaltigungen, und einige Menschen wurden buchstäblich in die Sklaverei verkauft.

Die Aspekte Libyens und der Türkei haben sich in letzter Zeit noch mehr mit der militärischen Intervention der Türkei im laufenden Bürgerkrieg und den internationalen Verhandlungen über einen Waffenstillstand angenähert, an denen die Türkei nun notwendigerweise ein wichtiger Teilnehmer ist. (Daniel Brössler, Erdoğan ist eine zentrale Figur im Libyen-Drama geworden Süddeutsche Zeitung 24.01.2020)

Die Türkei rechtfertigte die jüngste Invasion Nordsyriens als notwendig, um einige der syrischen Flüchtlinge, die sie aufgenommen hatten, zurückzuholen. Aber die Türkei benutzte dies als Entschuldigung für die "ethnische Säuberung" von Kurden aus dieser Region. Doch das Flüchtlingsabkommen von Merkel und Erdogan aus dem Jahr 2016 schränkt die Fähigkeit der EU ein, militärische Missgeschicke der Türkei in Syrien oder Libyen in Frage zu stellen, weil die Türkei glaubwürdig damit drohen kann, große Flüchtlingsströme in die EU freizugeben. (Turkey lashes out at EU over refugee deal ahead of Merkel visit Deutsche Welle 23.01.2020)

Auch: Erdogan fordert von EU mehr Unterstützung für Flüchtlinge Oberösterreichische Nachrichten 24.01.2020:
Im Jahr 2016 hatte Merkel mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal ausgehandelt, der Migranten von der Weiterreise in die EU abhalten soll. Erdogan hatte in der Vergangenheit wiederholt gedroht, das Abkommen aufzukündigen.

Im Zentrum des Flüchtlingsdeals der EU mit der Türkei steht ein Tauschhandel: Die EU darf alle Migranten, die illegal auf die griechischen Inseln übergesetzt haben und kein Asyl erhalten, in die Türkei zurückschicken. Im Gegenzug kann für jeden zurückgeschickten Syrer ein anderer Syrer aus der Türkei legal in die EU einreisen. Es wurde zudem vereinbart, dass die EU sechs Milliarden Euro für die Verbesserung der Lebensbedingungen syrischer Flüchtlinge in der Türkei zahlt.
Und diese Kriege und Gerüchte über Kriege – und die US-Sanktionen, die den Weg für einen Krieg mit dem Iran ebnen – führen zu neuen Flüchtlingen, die auf Europa zusteuern. (Erin Cunningham and Mohammad Mahdi Sultani, Trump’s sanctions on Iran are helping fuel a new refugee crisis - in Turkey Washington Post 01/24/2020)

Mit anderen Worten, ein massiver Anstieg der Flüchtlinge, die in die EU kommen, vergleichbar mit denen von 2015-16, kann immer noch passieren. Und wahrscheinlich wird. Und es ist sehr schwierig, das vorherzusagen. Erdoğans internationale Ambitionen, eine Eskalation des Konflikts zwischen den USA und dem Iran, ernste wirtschaftliche Probleme sind alles Ereignisse, die dies bewirken könnten.

Mir scheint, dass die EU heute nicht besser darauf vorbereitet ist, mit einer solchen Wiederholung effektiv umzugehen als 2015. Sie sollten es sein. Aber wenn überhaupt, haben die fiesen politischen Kämpfe im Zusammenhang mit Einwanderung und Flüchtlingen eine effektive gemeinsame Reaktion der EU erschwert. Das vorherrschende Narrativ der EU, dass jedes Mitgliedsland seine eigene nationale "Wettbewerbsfähigkeit" fördern sollte, schafft auch eine für jedes Land bestehende Antwort auf Störungen, die gegen die Zusammenarbeit und Solidarität der EU wirken.

Wie zu Beginn von Teil 1 erwähnt, braucht die EU eine Einwanderungspolitik, die auf (1) einer positiven und nicht auf einer defensiven Immigrationspolitik beruht, die auf der Auffassung beruht, dass die EU-Länder in absehbarer Zeit eine erhebliche Zahl von Einwanderern benötigen, die größer sind als die aktuelle Nummer; und (2) eine Flüchtlingspolitik, die auf einer Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Länder beruht, d. h. das "Dublin-System" aufgeben.

Das Dublin-System funktioniert wie folgt (EU Commission Factsheet on The Dublin System n/d; zugegriffen 24.01.2020):
Bei der Anwendung der Dublin-Regeln wird das Ankunftsland in den meisten Fällen als das für den Asylantrag zuständige Land identifiziert.

Die überwiegende Mehrheit der Ankünfte wird derzeit nur in wenigen Mitgliedstaaten registriert (z. B. Griechenland und Italien), wodurch die Asylsysteme dieser Erstaufnahmeländer unter immensem Druck stehen. Das ist keine gerechte Verteilung der Verantwortung. [meine Übertragung aus dem Englischen]
Mit anderen Worten, das derzeitige System stellt die bei weitem größte Last für den Umgang mit dem Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten und Libyen dar, fällt auf Griechenland, Italien und das Nicht-EU-Mitglied-Land Türkei.

Teil 1: https://brucemillerca.blogspot.com/2020/01/die-eu-und-immigration-teil-1-von-3.html
Teil 2: https://brucemillerca.blogspot.com/2020/02/langfristige-herausforderungen-der-eu.html
Teil 3: https://brucemillerca.blogspot.com/2020/02/langfristige-herausforderungen-der-eu_5.html

Thursday, January 30, 2020

Langfristige Herausforderungen der EU bei Einwanderung und Flüchtlingen (Teil 1 von 3)

Die Europäische Union steht vor zwei großen Einwanderungsproblemen, sowohl jetzt als auch in absehbarer Zukunft.

Zum einen braucht die EU mehr Menschen. Und das gilt für die meisten, wenn nicht für alle Mitgliedsländer, nicht nur für weniger wohlhabende Länder wie Ungarn und Rumänien, deren Bevölkerung aufgrund der Auswanderung jüngerer einheimischer Menschen schrumpft.

Die andere ist, dass die nahen Nachbarn Europas im Süden fast zwei Jahrzehnte Krieg und Instabilität erlebt haben, ohne dass ein nahes Ende in Sicht ist: der Nahe Osten und Nordafrika, und auch Afghanistan, von wo aus Flüchtlinge über andere Länder in die EU gelangen.

Angesichts der Flüchtlingskrise 2015/6 (oder der akuten Phase einer viel längeren Krise) sind zwei wichtige Maßnahmen erforderlich: die systematische Rekrutierung und Zulassung von Zuwanderern für derzeit unbesetzte Arbeitsplätze, ob der Mangel auf den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zurückzuführen ist oder daran, dass die Arbeitsplätze sind so unangenehm, dass sie nicht genug Arbeitskräfte für sie bekommen können; und, einen Plan für eine gerechte Aufteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Länder in einem frühen Stadium, nicht erst, nachdem Asyl gewährt wurde.

Die Einwanderungspolitik kann sehr komplex sein. Aber die EU braucht beide politischen Maßnahmen und hat sie jetzt nicht.

Es ist ein weltweites Phänomen, dass die Geburtenrate sinkt, wenn Länder reicher und urbaner und anständiger werden. Die Ersatzrate, die Fruchtbarkeitsrate, mit der die Bevölkerung in Zahlen von einer Generation zu nächsten stabil bleiben wird, wird in der Regel auf 2,1 Kinder pro Frau angenommen.

Laut Wikipedia (List of sovereign states and dependencies by total fertility rate 01/23/2020) weisen die EU-Mitgliedstaaten folgende Fruchtbarkeitsraten auf, gerundet auf ein Dezimalkomma:

Austria 1,5
Belgium 1,8
Bulgaria 1,6
Croatia 1,4
Cyprus 1,3
Czechia 1,6 (Visegrad Group)
Denmark 1,8
Estonia 1,6
Finland 1,8
France 1,9
Germany 1,5
Greece 1,4
Hungary 1,5 (Visegrad Group)
Ireland 2,0
Italy 1,3
Latvia 1,5
Lithuania 1,6
Luxembourg 1,6
Malta 1,5
Netherlands 1,8
Poland 1,3 (Visegrad Group)
Portugal 1,4
Romania 1,4
Slovakia 1,6 (Visegrad Group)
Slovenia 1,6
Spain 1,5
Sweden 1,8
UK 1,7

Alle liegen unter der Ersatzfruchtbarkeitsrate von 2,1.

Ich habe auf die Visegrad-Staaten hingewiesen, die besonders darauf bestanden haben, Flüchtlinge aus der EU fernzuhalten. Visegrad-Gruppe Mitglied Polen ist mit winzigen Zypern als die niedrigste gebunden. Wir sollten hier beachten, dass die Fruchtbarkeitsrate nicht eins zu eins mit nationalen Wohlstandsmaßen übereinstimmen wird. Aber alle EU-Länder sind bereits über dem Punkt, an dem die Fruchtbarkeitsrate unter 2,1 gesunken ist.

Fruchtbarkeitsraten unterhalb der Ersatzrate bedeuten, dass ihre Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten schrumpfen wird. Dies wird oft in den Nachrichten darüber diskutiert, wie eine alternde Bevölkerung neue Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung und die staatliche Sozialversicherung des Landes darstellt.

Aber es wird auch allgemein angenommen, dass eine schrumpfende Bevölkerung eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum darstellt (Scott Lanman, A World With Fewer Babies Spells Economic Trouble Bloomberg Businessweek 09/14/2018):
Vergessen Sie die Prophezeiungen, die sagen, dass die Überbevölkerung den Planeten verhungern lassen wird. Die Menschheit nähert sich dem Punkt, an dem sie nicht mehr genug reproduziert, um die globale Mitarbeiterzahl zu erweitern. In den größten Volkswirtschaften der Welt -- den USA, China, Japan und Deutschland -- geschieht dies bereits oder wird es bald sein. Ökonomen sagen, dass diese Länder ein langsameres Wirtschaftswachstum sehen könnten, wenn sie ihre Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nicht erhöhen, indem sie Einwanderer aufnehmen, möglicherweise aus Regionen mit höheren Fruchtbarkeitsraten, wie Teile Asiens und Afrikas. Niedrigere Fruchtbarkeitsraten -- die Zahl der Lebendgeburten pro Frau -- könnten auch Sicherheitsnetzprogramme wie Renten und Gesundheitsversorgung bedrohen. [meine Übertragung aus dem Englischen]
In den USA und Europa wäre der einzige Grund, warum dies "Sicherheitsnetzprogramme" bedrohen würde, wenn die Regierungen nicht bereit sind, das Vermögen zu einem vernünftigen Satz zu besteuern. Aber bis jene Länder zu einer grünen Wirtschaft übergehen, in der wirtschaftlicher Wohlstand nicht mit einer wachsenden Bevölkerung verbunden ist, die den wachsenden Verbrauch anheizt, ist eine wachsende Bevölkerung erforderlich.

Es war interessant zu hören, was der österreichische Bundeskanzler Sebastian "Basti" Kurz (ÖVP) kürzlich selbst auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sagte (A Conversation with Sebastian Kurz, Federal Chancellor of Austria 24.01.2020):
Ich habe unlängst eine Diskussion erlebt, das, darüber philosophiert worden, wie die Postwachstumsgesellschaft, und, kannst die es [?] auch eigentlich gut für ein Land sein, wenn es zumal kein Wirtschaftswachstum mehr gibt und wenn, ja, vielleicht wir die Zufriedenheit trotzdem vorhanden ist, und wäre es nicht überhaupt besser eher da die Zufriedenheit der Bevölkerung zu messen und nicht das Wirtschaftswachstum.

Also, das klingt alles immer so schön und so romantisch. Ich kann nur sagen, in Europa haben wir teilweise die ältesten Gesellschaften der Welt. Ich glaub‘, Deutschland hat die zweitälteste Gesellschaft nach Japan.

Also, Zufriedenheit zahlt keine Pensionen, ja? Wenn wir kein Wachstum haben, wenn’s uns nicht gelingt, wirtschaftlich wettbewerbsfähig zu bleiben, also Europäische Union, denn auch Gute Nacht Sozialstaat und Gute Nacht europäische Errungenschaften. (nach 25:20 in Video) [meine Hervorhebung] 
Vielleicht war Bastis berühmtes Message Control momentan ausgeschaltet. Dies ist eine Standardaussage neoliberaler Ideologie. Bemerkenswert ist, dass Basti angibt, dass er, wenn er über Zufriedenheit spricht, die Zufriedenheit der heimlichen Bevölkerung meint.

Mit anderen Worten, man kann nicht die neoliberalen Wettbewerbsfähigkeiten haben – niedrigere Löhne, niedrigere Renten, weniger Sozialleistungen, weniger Regulierung für Unternehmen, Schwäche Gewerkschaften – ohne dass ein erheblicher Teil der Wählerschaft unzufrieden ist. Er höhnt sogar über die Idee einer solchen Zufriedenheit der Bevölkerung als “romantisch”. Aber nach Kurz Wachstum muss man haben.

Das Verhältnis von Geburten- und Fruchtbarkeitsraten wurde im Zusammenhang mit den malthusianischen Behauptungen untersucht, dass ein geringes Wachstum in armen Ländern zu einem großen, wenn nicht gar fast ausschließlichen Ausmaß durch ein hohes Bevölkerungswachstum verursacht wird. Diese Vorstellung wurde für, oh, die letzten zwei Jahrhunderte effektiv widerlegt. Aber es ist immer noch bemerkenswert hartnäckig, weil es eine effektive Ablenkung von der Fehlverteilung des Welteinkommens und massive Ausbeutung armer Länder durch wohlhabendere ist.

Die europäische Rechtsextremisten erkennen den Bevölkerungsrückgang an, versucht aber, ihn als Rechtfertigung für ihre rassistische, antisemitische "große Austausch"-Theorie zu benutzen. Europas derzeitiger Modell-autoritär Viktor Orbán versucht, eine höhere Geburtenrate zu fördern, und umrahmt sie rassistisch-nationalistisch Wörten (Hungary to provide free fertility treatment to boost population BBC News 01/10/2020):
Ungarn wird Paaren in staatlichen Kliniken kostenlose Behandlungen in der In-vitro-Fertilisation (IVF) anbieten, kündigte Ministerpräsident Viktor Orbana.

Er sagte, die Fruchtbarkeit sei von "strategischer Bedeutung". Im vergangenen Monat übernahm seine Regierung Ungarns Fruchtbarkeitskliniken.

Herr Orbán, ein Rechtsnationalist, plädiert seit langem für einen Ansatz der "Fortpflanzung über Einwanderung", um dem demografischen Niedergang zu begegnen.

Die Bevölkerung des Landes ist seit vier Jahrzehnten stetig rückläufig. [meine Übersetzung aus dem Englischen]
Siehe auch: Nora Shenouda, Ungarn setzt auf staatliche "Babyfabriken" Euronews 15.01.2020.

Die Vorstellung, dass Ungarn in absehbarer Zeit von einer Fruchtbarkeitsrate von 1,5 bis 2,1 oder höher kommen wird, ist Unsinn. Es würde Frauen aus der Erwerbstätigkeit drängen und in einen echten Handmaid’s Tale (Der Report der Magd) Art von Gesellschaft, in der Frauen im Grunde nur erlaubt waren, Kinder zu züchten und zu erziehen. Und selbst das würde es wahrscheinlich nicht auf die Ersatzrate bringen. (Wenn es einen Nebennutzen für eine gewisse Verbesserung der reproduktiven Gesundheitsversorgung von Frauen gibt, ist dies eine wünschenswerte, wenn auch unbeabsichtigte Folge.)

Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und sinkender Bevölkerung nicht sofortig ist. Es bedeutet nicht, dass, wenn im Jahr 2020 Ungarns Bevölkerung ab 2019 abnimmt, dass Ungarns BIP oder BIP pro Person von 2019 bis 2020 sinken wird. Natürlich gibt es immer noch Konjunkturzyklen.

Und die Tatsache, dass der Bevölkerungsrückgang seine Auswirkungen nicht sofort manifestiert, bedeutet, dass es schwierig ist, ihn zu einem Schwerpunkt der kurzfristigen Politik zu machen. Wir sehen jetzt dramatisch und weltweit, wie schwierig es ist, langfristige Maßnahmen gegen den Klimawandel zu priorisieren. Das ist nicht gut.

In Teil 2 werde ich mich mit der Flüchtlingsplanung - oder deren Fehlen - befassen.

Teil 1: https://brucemillerca.blogspot.com/2020/01/die-eu-und-immigration-teil-1-von-3.html
Teil 2: https://brucemillerca.blogspot.com/2020/02/langfristige-herausforderungen-der-eu.html
Teil 3: https://brucemillerca.blogspot.com/2020/02/langfristige-herausforderungen-der-eu_5.html