Monday, April 29, 2019

Politische Klappe über ein „Rattengedicht" in Österreich und die FPÖ

Braunau-am-Inn, Österreich, vor gut einem Jahr:: Braunau in the spotlight: Hitler's birthplace embraces inclusion (Brian Melican, Guardian 28.03.2018)

Braunau-am-Inn, Österreich, jetzt: Politician from Hitler's home town resigns over 'deeply racist' poem (Philip Oltermann, Guardian 23.04.2019)

Österreich ist ein kleines Land mit rund neun Millionen Einwohnern. Wenn es internationale Nachrichten macht, vor allem außerhalb des deutschsprachigen Raums, dann liegt das in der Regel an einer Art von Katastrophe wie Lawinen oder an einer ungewöhnlichen und/oder widerlichen politischen Entwicklung.

(Ich habe eine allgemeine Beschreibung der politischen Situation in Österreich ab April 2019 gepostet hier {Englisch} and hier {Deutsch}. Es gibt eine englische Version dieses Beitrag hier.)

Braunau ist eine kleine Stadt mit 17 Tausend Einwohnern. Aber es ist wohl die bekannteste österreichische Stadt nach Wien (weil es eine Großstadt ist) und vielleicht Salzburg (weil The Sound of Music dort gedreht wurde). Braunau ist berühmt bzw. berüchtigt, weil es die Stadt ist, in der Adolf Hitler geboren wurde. Hitler ist tatsächlich in der Stadt Linz aufgewachsen. Doch Hitler und seine Unterstützer feierten Braunau als seinen Geburtsort. So haben viele Leute außerhalb Österreich von Braunau gehört.

Aus diesem Grund ist jede politische Kontroverse, die Braunau und jedes was an den Nationalsozialismus erinnert involviert, eher internationale Nachrichten zu bringen als ein ähnliches Ereignis in anderen österreichischen Städten seiner Größe.

Und genau das geschah vor einer Woche (Oster-Wochenende), als ein Vizebürgermeister von Braunau, Christian Schilcher, Mitglied der rechtsextremen Freiheitlichen Partei (FPÖ), die Juniorpartner in der Bundesregierung und in zwei der österreichischen Bundesländer ist, veröffentlichte einen Newsletter in Vers-Form, in dem Einwanderer mit Ratten verglichen werden. Ich bin jetzt selbst ein österreichischer Einwanderer, also hat es mich selbst nicht so freundlich getroffen. Es ist auch bekannt als ein Vergleich in der Nazi-Propaganda in den 1930er und 1940er Jahren verwendet, um Hass und Gewalt gegen Juden, Zigeuner und Ausländer zu schüren. Beobachter des Rechtsextremismus sehen in der Verwendung dieser Art von Symbolik oft ein Gefahrenzeichen dafür, dass die Person oder Gruppe, die sie einsetzt, bereit sein könnte, direkte Gewalt gegen die Zielgruppe zu üben.

Der Vorfall verwandelte sich schnell in eine nationale politische Frage. Das liegt zum Teil an der unangenehmen internationalen Berichterstattung darüber. Vor allem aber, weil dadurch Zweifel verstärkt werden, wie sehr die Regierungspartei FPÖ die Demokratie tatsächlich unterstützt.

Ein ironischer Ausdruck ist Teil des österreichischen politischen Vokabulars geworden: „Einzelfall" (isolierter Vorfall). Es ist gekommen, für Fälle wie diesen aus Braunau zu stehen, in denen die FPÖ etwas tut oder sagt, das Sympathie oder Zustimmung zu Rechtsextremen anzeigt oder Nazi-ähnliche Rhetorik oder Symbole einsetzt. Das passiert ziemlich oft. Auch mehrmals in einer Woche. Die FPÖ nennt sie "Einzelfälle". Und sie geschehen immer wieder. Deshalb hat also „Einzelfall" eine gegenteilige Bedeutung erlangt, die für FPÖ-Vorfälle steht, die eindeutig nicht isolierten Ereignissen sind.

Wegen diesem Einzelfall, die als „Rattengedicht" bekannt ist, musste Christian Schilcher sein Stadtamt niederlegen. Und er musste auch die FPÖ verlassen. Der Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat die FPÖ öffentlich über dieses, die stärkste öffentliche Äußerung, die er seit seinem Amtsantritt im Dezember 2017 gegen die "isolierten Vorfälle" der FPÖ gemacht hat, beschimpft. Sein Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) sah sich genötigt, die Rattengedicht öffentlich zu verleugnen. Doch mit jedem Einzelfall wird es immer schwieriger, Straches Dementis als glaubwürdig zu nehmen. Er musste schon eine Menge von solchen Einzelfälle den letzten anderthalb Jahren dementieren oder relativieren.

Auch der österreichische Präsident Alexander Van Der Bellen hat den ungewöhnlichen Schritt unternommen, nach dem Fall Rattengedicht sehr öffentlich Stellung zu beziehen. Es ist ungewöhnlich, denn der österreichische Präsident ist das gewählte Staatsoberhaupt, das die Verantwortung dafür trägt, dass er nach einer Wahl offiziell eine neue Regierung genehmigt. Er hat auch die Macht, eine Regierung zu entlassen und vom Parlament den Aufbau einer neuen Regierungskoalition zu verlangen, was ein Präsident in der Geschichte der Zweiten Republik (1945-heute) noch nie getan hat. Er habe aber nicht die Befugnis, Neuwahlen auszurufen oder das Parlament zu entlassen. Angesichts seiner Position wird erwartet, dass der Präsident nur dann direkt in aktuelle politische Konflikte eingreift, wenn er etwas als potenzielles verfassungsrechtliches Problem betrachtet.

Van Der Bellen rief Strache zu einem formellen Interview in sein Büro auf, eine Protokollgestalt, die signalisierte, dass der Präsident denkt, Strache und seine Partei haben sich wirklich verpatzt. Er veröffentlichte diese Erklärung auch auf Facebook (24.04.2019) speziell auf der Fall Rattengedichtund der FPÖ:
In den letzten Tagen und Wochen sind Aussagen öffentlich geworden, mit denen gezielt Hetze gegen einzelne Menschengruppen betrieben wurde. Solche Aussagen führen zur Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas in unserem Land. Sie führen zur Spaltung statt zur Stärkung des Gemeinsamen in unserer Heimat. Und damit wird auch das Ansehen Österreichs in der Welt massiv beschädigt. Hetze gegen Mitmenschen werden wir in Österreich niemals akzeptieren.

Ich begrüße die klare Reaktion des Bundeskanzlers und nehme zur Kenntnis, dass im Fall der FPÖ Braunau Konsequenzen gezogen wurden. In einem persönlichen Gespräch in der Hofburg mit dem Vizekanzler habe ich gestern festgehalten, dass alle Politikerinnen und Politiker, besonders aber die Funktionäre einer Regierungspartei Verantwortung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tragen und für ein Klima des Respekts zu sorgen haben.

Ich erinnere heute erneut daran, was ich bei der Angelobung der Bundesregierung im Dezember 2017 eingemahnt habe: Es bedarf der besonderen Achtsamkeit beim Gebrauch der Sprache. Seit ich mein Amt angetreten habe, sehe ich es zudem als meine Pflicht und Aufgabe an, den Willen und das Wohl aller im Blick zu haben. Das ist selbstverständlich auch eine zentrale Aufgabe der Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Strache. Sie sind es, die als Vertreter Österreichs in besonderem Maße für das Ansehen unserer Heimat in der Welt und für den Wirtschaftsstandort Österreich Sorge zu tragen haben.

Weitere Berichte zum Rattengedicht „Einzelfall":

Fabian Schmid, "Stadtratten"-Gedicht der FPÖ: Skandale als Normalzustand Standard 23.04 2019

Nur Einzelfälle? Die lange Liste rechter Ausrutscher Standard 23.04.2019

Karin Riss, Kurz und Strache: Angriff bleibt die beste Verteidigung Standard 24.04.2019

"Ratten-Gedicht": Van der Bellen warnt vor "Vergiftung des Klimas" Oberösterreichische Nachrichten 24.04.2019

"Rattengedicht" bringt Österreich in die internationalen Schlagzeilen Oberösterreichische Nachrichten 23.04.2019

FPÖ-EU-Spitzenkandidat Vilimsky: "Sie machen permanent Stimmung gegen uns" ORF/ZiB2 23.04.2019 (Video bis zum 30.04.2019)

"Rattengedicht": Ein Rücktritt in der FPÖ reicht der Opposition nicht Oberösterreichische Nachrichten 24.04.2019

Van der Bellen warnt vor "Vergiftung des Klimas" Oberösterreichische Nachrichten 24.04.2019

https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/1211/ZIB-2/14011345/FPOe-EU-Spitzenkandidat-Vilimsky-Sie-machen-permanent-Stimmung-gegen-uns/14484455

„NS-Koketterie“ bei Burschenschaft ORF 24.04.2019

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